Wie sich sehbehinderte Biathletinnen und Biathleten auf ihren ‚Co-Piloten’ verlassen können müssen. Und wie sie auch beim Schießen ihr Ziel exakt ins Visier nehmen können.
Es hat vor allen Dingen mit Vertrauen zu tun. „Blindem Vertrauen“ hat die zwölffache Paralympics-Siegerin Verena Bentele einmal gesagt. Ein Wortwitz, natürlich. Dennoch: Selten ist dieses Wort passender als im Leistungssport der Sehbehinderten, in der Loipe und auf Skiern allemal. Wo es rutschig ist und man die Wegeführung nicht sieht. Und trotzdem volle Pulle mitten ins Schwarze laufen muss. Das geht nur mit einem Begleitläufer, zu dem der Athlet tatsächlich blindes Vertrauen entwickelt hat.
Die Leistung der vollständig oder fast vollständig blinden Skilangläufer – und Biathleten – ist deshalb für den Sehenden überhaupt nicht einzuschätzen. Wie machen sie das? Wie finden sie ihre Ziele? Wie funktionieren diese Disziplinen überhaupt? Schon das Schießen beim Biathlon ist eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe. An einem Infrarotgewehr zeigt ein akustisches Signal an, wie gut die Waffe auf das Ziel ausgerichtet ist. Je höher der Ton, desto besser. Das ist kompliziert, das muss man lernen. Eine Erfahrung, die auch Biathlon-Olympiasiegerin Kati Wilhelm bei einem im November vom Deutschen Behindertensportverband (DBS) ausgerichteten „Wettschießen“ mit bzw. gegen Bentele machen musste: „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig ist“, sagte Wilhelm nach dem natürlich verlorenen Schuss-Duell, bei dem ihre Augen verbunden wurden, „aber noch beeindruckender finde ich die Leistung, als Blinder auf Skiern zu stehen.“
Laufen und sich dabei vollkommen auf die Kommandos des Begleitläufers zu verlassen, der vor dem Athleten herläuft, das ist schon eine ganz besondere Herausforderung. „Wir sind inzwischen sehr gut aufeinander eingespielt und verstehen uns auch privat sehr gut“, erzählt Normann Schlee, der in Sotschi die Freiburgerin Vivian Hösch auf der Langlaufstrecke und beim Biathlon begleitet: „Wenn Vivian mit jemand Anderem läuft, dann ist sie viel zurückhaltender.“ Denn natürlich ist das Sturzrisiko immer da.
Bentele, die nach dem Spielen 2010 unter anderem deshalb mit dem Leistungssport in der Loipe aufgehört hat, weil ihr Begleiter Thomas Friedrich nicht die notwendigen beruflichen Freistellungen und Sporthilfe-Entlohnung bekam, hat selbst üble Erfahrungen gemacht. Bei den deutschen Meisterschaften 2009 verwechselte ihr damaliger Begleiter links und rechts, sie stürzte in einen Abhang – und erlitt einen Kreuzbandriss, Kapselrisse an zwei Fingern und Verletzungen an Leber und einer Niere, die letztlich entfernt werden musste. „Sechs Monate hat es gedauert, bis die Angst überwunden war“, erinnert sich die im Januar zur Behinderten-Beauftragten der Bundesregierung ernannte Münchnerin.
Etwa zwei Meter muss der „Guide“ seinem Läufer oder der Läuferin voraus sein und dabei ständig kommunizieren. Das ist ein extrem anstrengender Job, nicht nur, dass er das sportliche Niveau haben muss, er muss sich eben auch regelmäßig umdrehen und sprechen. „Ich sage eigentlich bei jedem Schritt ‚Hopp’, dann weiß Vivian, dass es geradeaus geht“, erklärt Schlee, „wenn eine Kurve kommt, sage ich zuerst die Richtung ‚links’ oder ‚rechts’ und dann geht es nach dem Ziffernblatt der Uhr. 9,10,11 ist links, wobei 9 eine 90-Grad-Kurve bedeutet. Entsprechend rechts zwischen 1 und 3. Das sage ich so lange, wie wir die Kurve entlang fahren. Also 2-2-2-2 bis die Kurve vorbei ist.“
Der 30 Jahre alte Lehramts-Referendar und Sportsoldat reist als offizielles Teammitglied des DBS nach Sotschi, er wohnt natürlich auch im Olympischen Dorf, er ist Sportler. „Wenn wir eine Medaille gewinnen sollten, werden wir als Team gewertet und ich darf mit aufs Podium“, sagt er, „ich fühle Sieg und Niederlage genauso wie die Athletin selbst.“ Seit sechs Jahren bereits läuft er vor der 22 Jahre alten Vivian Hösch her, die Chemie stimmt – und das muss sie auch. „Unsere Freundschaft hilft uns auch viel beim Laufen“, sagt Schlee, „Wir haben ein großes Vertrauensverhältnis.“ Beim Schießen indes, das hat Verena Bentele jüngst in München nicht nur der staunenden Kati Wilhelm, sondern auch einem beeindruckten Publikum einmal mehr vorgemacht, sind die sehbehinderten Athletinnen und Athleten ganz bei sich. Und dem akustischen Signal. Schuss auf Schuss auf Schuss. „Diese Ruhe“, zeigte sich Wilhelm fasziniert, „ist umso bemerkenswerter, wenn wir Sehenden uns klar machen, wie anstrengend nicht nur der Langlauf selbst, sondern auch die permanente Konzentration auf die Kommandos der Co-Piloten in der Loipe sein muss“. Das, so würde es Bentele vermutlich selbstironisch formulieren, müsse man sich mal vor Augen führen.
(Deutscher Behindertensportverband e.V.)