Sascha Stoltze führt ein Leben auf der Überholspur. Selbst von seiner Querschnittlähmung lässt er sich nicht ausbremsen. Einblicke in das Leben eines Mannes, der immer wieder das Extreme sucht.
„Wenn ich morgen laufen könnte, würde ich mir übermorgen wieder ein Motorrad kaufen.“ Kurze Pause. „Nein, eher morgen Nachmittag.“ Sascha Stoltze ist nach einem Motorradunfall Rollstuhlfahrer. Seine Frau guckt nicht begeistert, meint aber: „Er ist, wie er ist. Das macht ihn ja auch aus. Und es ist sein Leben.“
Man merkt ihr an, dass ihr die Sätze nicht leicht fallen. Immerhin hat sich auch in ihrem Leben vieles verändert seit dem Unfall vor neun Jahren. Die Krankenschwester hatte ihren Mann auf der Arbeit im Chemnitzer Krankenhaus kennengelernt. Sascha Stoltze hat seit seiner Kindheit Nierensteine. Zur Kontrolle muss er regelmäßig auf die urologische Station im Krankenhaus. Die Stoltzes sind seit 16 Jahren ein Paar, seit 2001 verheiratet. Sie haben noch ein zweites Mal geheiratet nach dem Unfall, 2009 in Las Vegas.
Über die Zeit nach dem Unfall hat Kathrin Stoltze ein Buch geschrieben. Es heißt „050607“. Der Titel bezieht sich auf den Tag des Unfalls. Das Buch beschreibt, wie sie mit der neuen Situation zurechtkommen musste. Auch heute noch fällt es ihr manchmal schwer, darüber zu reden, sie hat Tränen in den Augen: „Die Resonanz auf das Buch war sehr positiv. Eine Frau, deren Mann auch im Rollstuhl ist, hat Kontakt mit mir aufgenommen. Das war sehr emotional für mich.“
Wenn man die Stoltzes in ihrem Garten am Stadtrand von Chemnitz trifft, begegnet man keineswegs einem am Boden zerstörten Paar. Beide haben ihre Arbeit, Sohn Paul ist schon erwachsen und wohnt nicht mehr zu Hause. Zur Familie gehören drei Katzen: Röhre, Kugel und Zylinder. Kathrin und Sascha Stoltze fahren viel in der Welt herum, vor allem die USA gefällt ihnen. Gerade im März waren sie dort. Sie waren aber auch schon in Haiti, auf Jamaika und in Mexiko. Eine Weltkarte mit bunten Fähnchen zeigt die bereisten Orte.
Der Rausch der Geschwindigkeit
„In Amerika ist alles viel einfacher“, sagt Sascha Stoltze. Dort kann er Achterbahn fahren, etwas das er, der die Geschwindigkeit liebt, für sein Leben gern macht. „In Deutschland geht das nicht, die haben Angst vor allem. Ich komme weder ran an die Achterbahn, noch rein, noch darf ich mitfahren. Dabei, was soll passieren? Ich sitze ja schon im Rollstuhl.“ Typisch Sascha Stoltze.
Vor der Tür steht sein Audi Sportcoupé, 420 PS, 308 Stundenkilometer schnell. Geschwindigkeit muss sein. Dass der 44-Jährige damit öfter ein Knöllchen auf dem Behinderten-Parkplatz bekommt, trotz Ausweis in der Windschutzscheibe, stört ihn wenig. „Das zeigt doch die Vorurteile der Leute, auch der Politessen. Als ob Behinderte keinen Sportwagen fahren könnten.“ Bezahlen tut er die Knöllchen natürlich nicht.
Kontakt mit anderen Rollstuhlfahrern hat Sascha Stoltze eher wenig. Aber Hobbies. Er fährt einmal in der Woche zum Bogenschießen, und kurvt gern mit einem ferngesteuerten Modellauto auf leeren Parkplätzen rum: „Ein Benziner natürlich, elektrisch ist nichts für mich, zu langweilig. Beim Benziner gibt es mehr zu basteln.“ Das Rumkurven macht er nicht allein, sondern mit anderen Autonarren, sie fahren auch Rennen. Der Schnellste gewinnt.
Unvernünftige Ziele setzen
Man muss sich Ziele im Leben setzen, findet der 44-Jährige, „irgendwas versuchen hinzukriegen.“ Unvernünftige Ziele sind ihm am liebsten. Nach dem Unfall hat er geheult, war satt. „Aber alle um mich herum haben sich so angestrengt, vor allen meine Frau, meine Familie, die Freunde. Da hat es klick gemacht bei mir.“ Beide, Kathrin und Sascha, waren beim Psychologen. Anfangs war es sehr schwer.
Zu seinem 40. Geburtstag schenkte ihm die Familie einen Flug mit einem Kampfjet. Das war im August 2012 in Plzen in Tschechien. Zuvor hatte sich der Informatiker die Software genau dieses Jets, eines Albatros L-39, auf seinen Computer geladen und 100 Stunden geübt. Das Flugzeug ist ein Unterschall-Kampfjet, der heute noch bei einigen Armeen im Einsatz ist oder als Ausbildungsflugzeug verwendet wird.
Sascha Stoltze kannte alle Messinstrumente, trainierte alle möglichen Flugmanöver. Dann ging es los. „Der tschechische Pilot hatte das schon mal mit einem Rollstuhlfahrer gemacht und wusste, dass es geht. Außerdem hatte ich Glück, dass der Hobby-Co-Pilot, der vor mir dran war, sich übergeben musste. Sein Flug war kürzer, meiner länger.“
Reinkommen in den engen Jet war schon mal ein Problem. Ein Kran hievte Sascha Stoltze hoch, Helfer bastelten den durchtrainierten, muskulösen Mann ins superenge Cockpit. Dann ging es los. Zunächst steuerte der Pilot die Maschine: „Ich mache einen ersten Looping. Wenn Du dann durch die Belastung nicht ohnmächtig wirst, geht´s weiter.“ Sascha wurde nicht ohnmächtig. Loopings, Rollen, das ganze Programm: „Ein Riesenspaß.“ Mit dem Jet mal kurz auf dem Boden aufsetzen und dann steil hochziehen. Sascha Stoltze kam auf seine Kosten. Nur gut, dass seine Frau das alles gar nicht so genau mitbekommen hat, weil der Start- und Landeplatz außer Sichtweite war.
Sascha Stoltze durfte danach sogar das Steuer übernehmen. „Ich hatte Glück. An dem Tag gab es fast keinen Wind. Und man brauchte das Seitenruder, das mit den Füßen bedient wird, nicht. Ich konnte den Jet mit den Händen fliegen.“
050607
Der Unfall damals am 5. Juni 2007 war von ihm unverschuldet. Ein 81-Jähriger Autofahrer ist einfach abgebogen, hat Sascha Stoltze die Vorfahrt genommen. Der Unfallverursacher hat damals nach dem Unfall bei Stoltzes angerufen, war auch in der Klinik, aber Kathrin Stoltze wollte nicht mit ihm reden. Bis heute ist sie wütend, dass er mit 2.800 Euro Geldstrafe davon kam. Und Sascha Stoltze hätte gar nicht mit ihm sprechen können. Er hat keine Erinnerung an die Zeit vor und nach dem Unfall, acht Wochen fehlen ihm. Filmriss. Seitdem ist er ab dem zwölften Brustwirbel abwärts komplett gelähmt. Die Arme kann er bewegen, die Beine nicht. Das Rückenmark ist aber nicht durchtrennt, nur sehr sehr stark gequetscht.
Was das bedeutet, hat der Patient gemerkt, als er nach Jahren der Therapie und mit ungeheurer Anstrengung „vor allem im Kopf, weniger mit den Muskeln“ gelernt hat, die Beine gaaanz langsam im Liegen zu öffnen und zu schließen. Ein Riesenerfolg.
Die erste OP unmittelbar nach dem Unfall war in Chemnitz. Die zweite in Halle in der Klinik Bergmannstrost. Dr. Klaus Röhl, der Professor, der Sascha Stoltze dort zum zweiten Mal operiert hatte, um die (meisten) Stabilisatoren wieder zu entfernen, hat das Mediziner-Urteil inzwischen von kompletter Lähmung in inkomplette Lähmung geändert: „Das kommt vor.“ Gut für den Patienten. Inzwischen kann er nach wiederum jahrelanger Therapie, die er dreimal pro Woche absolviert, das Bein heben und auf einem Ball ablegen. Allerdings ohne Gefühl in den Beinen zu haben. Aktuell hat er sich gerade einen Gehbarren angeschafft. Er kann schon zwischen den beiden Holmen „stehen“. Das geschieht aber nur mit Hilfe der Therapeuten und mit seiner enormen Armkraft. Es ist hartes Training. Der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Sein nächstes Ziel ist ein Schritt nach vorn, egal wie klein der ist.
Aufmerksam verfolgen die Stoltzes den medizinischen Fortschritt. Von Medikamenten ist die Rede, von Überbrückung des geschädigten Rückenmarks. Ein Exoskelett wäre nichts für ihn: „Da laufe ich nicht, da werde ich gelaufen.“ Und schiebt selbstbewusst hinterher: „Stehen lerne ich mit dem Barren selbst.“
Seit dem Unfall bezieht Sascha Stoltze eine Erwerbsunfähigkeitsrente, arbeitet aber Teilzeit in seinem erlernten Beruf als Informatiker in der Firma seines Bruders von zu Hause aus. „Ist doch praktisch, dass ich schon vor dem Unfall bei der Arbeit vor allem gesessen habe. Hätte es mich als Dachdecker vom Dach geklatscht, hätte ich umschulen müssen.“
Ums Recht kämpfen
Sascha Stoltze ist AOK-versichert. Was das bedeutet, hat das Paar nach dem Unfall erfahren. Die Krankenkasse genehmigte den ausgesuchten Rollstuhl nicht, das Sitzkissen schon. Kathrin Stoltze ist mit dem Ablehnungsbescheid in der Hand gleich hin zur Krankenkasse: „Schönen Dank für das Sitzkissen. Doch ohne Rollstuhl nutzt uns das nichts. Wenn ich nicht sofort die Zusage für den Rollstuhl bekomme, bin ich morgen wieder hier mit Presse und Fernsehen.“ Sie war verzweifelt, ist auch laut geworden, hat geschrien. Sie bekam die Zusage für das Hilfsmittel und hat gelernt, dass sie jetzt noch viel mehr als früher um ihr Recht kämpfen muss. Auch für viele andere Hilfsmittel und Unterstützungen kamen zunächst Ablehnungen.
War Sascha Stoltzes Frau mal ein paar Tage weg zur Fortbildung, haben die beiden mit einem Riesenkraftakt Hilfe organisiert, seine Schwester kam, die Nachbarn haben geholfen. Kathrin Stoltze: „Dabei gibt es die Möglichkeit eines bezahlten Pflegedienstes. Das haben wir nur durch einen Zufall erfahren, gesagt hat uns das keiner von der Krankenkasse.“
Andere Sachen dagegen gingen unkompliziert. Die Versicherung des Unfallverursachers hat Umbauten am Einfamilienhaus bezahlt, eine breitere Einfahrt, ein elektrisch bedienbares Tor, einen Carport, den Treppenlift in die erste Etage, den Rollstuhl oben. Eine elektrische Hilfe, um in die Badewanne zu kommen, wäre auch möglich gewesen. Sascha Stoltze wollte aber nur eine mechanische Hilfe, einen Griff, an dem er sich festhalten kann und ein Badewannenbrett: „Das hat mir mein Therapeut in der Rehabilitation in Kreischa gesagt: Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, nimm immer die für Dich Anstrengendste. Nur so geht es vorwärts.“
Heidrun Böger
„050607“, Kathrin Stoltze, 14 Euro, 176 Seiten, Verlag: telescope, ISBN-10: 3941139509
Dieser Artikel erschien im RehaTreff (03/2016).Hier können Sie ein kostenloses Probeheft oder ein Abo bestellen (21 €/Jahr für vier Ausgaben) |