Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung

Dr. Carsten Rensinghoff hat für uns „SGB IX Kommentar – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung“ rezensiert.

Wenn Menschen mit einer Behinderung, zum Beispiel nach einem schweren hirntraumatischen Ereignis, leben, kommen sie früher oder später mit dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch, dem SGB IX, in Berührung. Hierbei handelt es sich um das Sozialgesetzbuch, das seit dem 1. Juli 2001 gültig ist und sich mit der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen befasst. Aus Erfahrung wissen wir sicher, dass Gesetzestexte für Nichtjuristen oft unverständlich sind, vielleicht auch gerade dann, wenn die Verstehbarkeit durch eine schwere Schädel-Hirnverletzung – unter Umständen massiv – beeinträchtigt ist. Für den letztgenannten Fall sind aus diesem Grund Kommentare, die Gesetzestexte verstehbar machen und bei der Klärung bestimmter Sachverhalte behilflich sind, von sehr großem Nutzen. Der hier zu besprechende Kommentar ist für dieses Unternehmen hervorragend geeignet.
Grundlage ist der Rechtsstand vom 31.12.2023. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch zukünftige wichtige Gesetzesänderungen absehbar. Die Autorinnen und Autoren haben diese Gesetzesänderungen „in die betroffenen Normtexte eingepflegt und im Rahmen eines Ausblicks kommentiert“ (S. V).
Einen nicht unwesentlichen Teil nimmt 2017 die Einführung des Bundesteilhabegesetze, des BTHG, für diese Änderungen ein. Diese Einführung erfolgte in den so genannten vier Reformstufen bis zum 1. Januar 2023. Als ein Meilenstein ist hier § 32 SGB IX zu nennen, der im Rahmen der zweiten Reformstufe ab dem 1. Januar 2018 die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) regelt und somit für einen Großteil der Menschen mit Behinderung zu entscheidenden Verbesserungen im Arbeitsleben geführt hat. Gemäß § 32 Absatz 3 SGB IX soll die Beratung von Betroffenen für Betroffene, also über das Peer Counseling, durchgeführt werden. So stellt der Professor für Sozialrecht an der Hochschule Nordhausen – Torsten Schaumberg – fest, dass hier die Umsetzung von Artikel 26 Absatz 1 UN-Behindertenrechtskonvention erfolgt. Hiernach sind wirksame und geeignete Maßnahmen zu treffen, „einschließlich durch die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen, um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassender körperlicher, geistiger, sozialer und beruflicher Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren. Die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen kann auch Angebote des ‚Peer Counseling‘ umfassen“ (S. 328). Die Verordnung zur Weiterführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung führt in § 2 Absatz 3 EUTBV aus, dass „in der Beratung soweit wie möglich Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohte Menschen […] als Beraterinnen und Berater tätig werden sollen“ (S. 333). Dieser Forderung kommen die Träger, bei denen die Beratenden in der EUTB sozialversicherungspflichtig angestellt sind, leider nicht nach, weil in den Stellenausschreibungen immer Berufsabschlüsse bis hin zu einem Studium gefordert werden. Menschen mit einer Behinderung in der kognitiven Entwicklung haben hier das Nachsehen, da sie so aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeschlossen werden. So fordert beispielsweise die Landesvereinigung SELBSTHILFE e.V. unter anderem ein abgeschlossenes Studium der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Pädagogik oder eine gleichwertige akademische Ausbildung. Menschen mit einer Geistigen Behinderung können die Beratung i.S. von § 32 Absatz 3 SGB IX nicht durchführen, weil ihnen unter Umständen der für ein wissenschaftliches Studium notwendige Lernstoff vorenthalten wurde. In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll auf Georg Feusers (2008/1996) Ausführungen zu verweisen, in der er für das Land Bremen feststellt, dass der Lehrplan für die ersten vier Schuljahre in der allgemeinen Grundschule das Rechnen bis eine Million vorsieht. In der Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen hat das Rechnen bis eintausend zu erfolgen. In der Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung wird das Erlernen des Rechnens im Lehrplan gar nicht erwähnt. Nach Feuser scheint es so, als gäbe es für Menschen, die wir in dieses Klassifikationsraster bringen, keine Welt des Quantifizierbaren. „Was wir annehmen, daß der andere nicht lernen kann, bieten wir erst gar nicht zu lernen an. So muß er bleiben und sein, was und wie wir meinen, daß er ist!“ (ebd., 7).
Insgesamt handelt es sich hierbei um eine Publikation, die für Menschen mit Behinderung, deren Beratenden, Betriebs- und Personalräten, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, Entscheidungstragenden in der Verwaltung, hierzu Lehrenden und Forschenden verfasst wurde. Die Kommentierungen sind fundiert und praxisnah.

Literatur:
Feuser, Georg (2008/1996): „Geistigbehinderte gibt es nicht!“. Zum Verhältnis von Menschenbild und Integration, Vortrag gehalten am 6.-8. Juni 1996 auf dem 11. Österreichischen Symposium für die Integration behinderter Menschen „Es ist normal verschieden zu sein“, Innsbruck, Österreich. Online verfügbar in der digitalen Bibliothek biodok – behinderung inklusion dokumentation seit 2008, 13 Seiten, URL: https://bidok.library.uibk.ac.at/download/pdf/10052636.pdf. [abgerufen am 21.09.2024].

Das Werk ist in der 12. Auflage im Luchterhand Verlag 2024 erschienen. ISBN 978-3-472-09562-0, 1.900 Seiten, 149 Euro.

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